Grüße von Freud und Hitchcock
Storycode: I TL 230-AP
Originaltitel: Topolino e la collana Chirikawa
Deutscher Titel: Micky Maus und die Irokesenkette / Die Irokesenkette
Seitenanzahl: 59 (3-reihig)
Autor & Bleistiftzeichner: Romano Scarpa
Tuschezeichner: Rodolfo Cimino
Erstveröffentlichung: März 1960
Deutsche Veröffentlichungen: Lustiges Taschenbuch 9, Alles über Micky Maus, LTB Sonderedition 2017-3, LTB Nostalgie-Edition 9
Eine Verbrecherbande macht Entenhausen unsicher? Micky erleidet einen Zusammenbruch aufgrund eines frühkindlichen Traumas? Was sich in dieser Geschichte – eine der besten Maus-Geschichten des italienischen Meisters Romano Scarpa – abspielt, sprengt in mehr als einer Hinsicht die gängigen engen Gattungsgrenzen der Disney-Comics. Und ganz nebenbei führt Scarpa zwei neue Figuren in den Maus-Kosmos ein, Kater Karlos Freundin Trudi und Mickys Tante Linda. Nicht nur deshalb ist die Geschichte enorm lesenswert.
Was passiert? Auf einer Baustelle wird Micky plötzlich schwindelig, der Doktor verordnet ihm einen geruhsamen Aufenthalt am Land. Atömchen bringt Micky zu seiner Tante Linda, aber ganz so geruhsam wird es zunächst nicht, denn Linda züchtet Meerschweinchen und die haben einen natürlichen Fluchtinstinkt. Während des Abendessens bemerkt Micky ein Bild von Linda in jungen Jahren mit einer Irokesenkette. Auf die Kette angesprochen, benimmt sich die Tante äußerst merkwürdig.
In der Nacht hört Micky eine Sonderdurchsage der Entenhausener Polizei, die wegen einer Verbrechenswelle seine Mithilfe erbittet. Micky verdächtigt sogleich Kater Karlo, doch der sitzt im Gefängnis. Beim Besuch des Verbrechers beobachten Micky und Atömchen Trudi und verfolgen sie anschließend bis zu einem Grundstück, als Micky erneut schwindlig wird und er in Ohnmacht fällt.
Zurück bei Tante Linda berichtet sie den beiden, dass Micky einst entführt und gegen ihre Irokesenkette getauscht wurde. Atömchens Gedächtnisstrahlen versetzen Micky in seine Kindheit zurück und er erfährt, dass einst Karlo und Trudi seine Entführer waren. Die Übergabe Mickys erfolgte genau auf diesem Grundstück, dessen Boden aufgrund des feuchten Betons damals schwankte. Micky und Atömchen ergründen das Grundstück genauer und finden den Eingang zum Versteck der Gaunerbande.
Die Geschichte gehört zum großen Atömchen-Zyklus von Scarpa, gemeinsam mit "Die vierte Dimension", "Auf den Spuren der Indianer", "Der Kaiser von Quacktanien" und "Eine heiß begehrte Erfindung". Atömchen, mit seinem Mesonenstrahl mit einer kaum zu toppenden Waffe ausgestattet, ist sowohl eine Bereicherung als auch ein Problem für Micky-Geschichten – wohl mit ein Grund, warum er nach Scarpa kaum mehr verwendet wurde. Denn wie erzeugt man Spannung, wenn Atömchen mühelos all seine Gegner außer Gefecht setzen kann? Casty, der dem blauen, sympathischen Triumph der Wissenschaft eine Trilogie gewidmet hat, hat explizit nach Möglichkeiten gesucht, Atömchen in seinen Handlungsfähigkeiten einzuschränken. Scarpa gibt in "Die vierte Dimension" Karlo ein böse gesinntes Atom zum Helfershelfer, das Atömchens Macht kompensieren kann. In "Die Irokesenkette" geht er andere Wege: Nicht Atömchen, Micky wird außer Gefecht gesetzt.
Der Schwindel beeinträchtigt bis kurz vor dem Ende Micky derart, dass er den Fall nicht lösen kann. Erst die Rückbesinnung auf das Kindheitserlebnis löst das Trauma, das Mickys Gleichgewicht auf schwankendem Boden beeinträchtigt hat. Die Einschränkung seines Hauptcharakters ermöglicht Scarpa einen Blick in die Freudsche Psychoanalyse, derzufolge sich psychische Problemzustände lösen lassen, wenn man nur tief genug in den eigenen Erinnerungen gräbt. Das italienische Original macht das noch wesentlich deutlicher als die – an der Stelle leider zu kurz greifende – deutsche Übersetzung: "Ora che ho 'ricordato' quell'episodio infantile, dovrei avere i nervi calmi!" ("Jetzt, da ich mich an dieses Ereignis aus meiner Kindheit 'erinnert' habe, sollten meine Nerven beruhigt sein!"). Was sie dann auch tatsächlich sind.
Ein Meister der filmischen Darstellung von Psychosen und Traumata war Alfred Hitchcock. Und Scarpa war ein Bewunderer seiner Filme, so wie er generell die klassischen Filme der 1940er und 1950er liebte. Der von Scarpa geprägte Micky der 1950er wurde von Luca Boschi, Leonardo Gori und Andrea Sani gar als Hitchcock-Micky bezeichnet, weil Scarpa sich in seinen Geschichten so stark von den Filmen Hitchcocks inspirieren ließ. In der "Irokesenkette" sind es gleich zwei. Schwindel? Ganz klar eine Referenz auf Vertigo! Dass Micky durch die Erinnerung an seine Kindheit von seinen Problemen befreit wird, ist der Plot von "Ich kämpfe um dich" (Spellbound) aus dem Jahr 1945. Hitchcock wird gerne als "Master of Suspense" bezeichnet und die ganze Geschichte wimmelt von Suspense, fast jede Seite erzeugt Spannung.
Bei so vielen Grüßen an den Vater der Psychoanalyse und den Meister des Thrillers erstaunt es ein bisschen, dass Scarpa Platz für eine äußerst komplexe Handlung mit zwei großen kriminalistischen Fragen findet, nämlich was mit Tante Lindas Kette passiert ist und wer die Diebesbande anführt, die immer stärker miteinander verflochten werden und natürlich zur gleichen Person führen. Es erstaunt sogar noch mehr, dass er Platz für seinen typischen Humor findet. Scarpa hat einmal Donald als Clown, als Quelle ständiger Gags bezeichnet, während Micky der durchschnittliche Amerikaner sei. Ich würde ihm da fast widersprechen. Zumindest hat Scarpa sämtlichen Humor aus der Figur herausgeholt, der vorhanden sein kann. Wie kann man die Sequenz mit den Meerschweinchen anders beschreiben als mit lustig? Wieviel mehr Humor wäre überhaupt möglich in der Verfolgungsjagd Trudis? Was sind die Bestrafungen Mickys und Atömchens im Bunker der Gauner denn anderes als eine Quelle abgedrehter Gags?
Die Geschichte ist darüber hinaus optisch-künstlerisch sehenswert. Die expressiven Zeichnungen aus Scarpas Frühphase setzen Mickys Schwindelgefühl gewagt in Szene und kulminieren in seiner Ohnmacht auf seinen Seiten 23–24, in der wir Mickys Kopf, in feuchtem Zement verschwunden, dreifach zu Gesicht bekommen. Die auf die Ohnmacht folgende Rückblende ist in kindlich-einfachem Stil gezeichnet, fast schon als Comic im Comic. Dieses Spiel mit dem Medium hat Scarpa öfters gemacht, erwähnenswert ist vor allem "Das ewige Feuer der Königin Kalhoa", in der Scarpa mit Wandmalereien ebenfalls eine Bildergeschichte innerhalb einer Bildergeschichte darstellt.
Ein weiteres Markenzeichen Scarpas, die innere Kontinuität seiner Geschichten, ist in der "Irokesenkette" gut erkennbar. Im Original erinnert sich Micky an einen der früheren Fälle mit Karlo aus der Feder des venezianischen Großmeisters, nämlich an "Der rätselhafte Severin", wo Karlo den Platz mit einem Mitgefangenen tauscht. Micky vermutet kurz, dass dies auch jetzt passiert ist.
"Die Irokesenkette" ist sehr einflussreich auf spätere Comics gewesen, wiederholt wurde auf sie Bezug genommen. Mit "Das Geheimnis der alten Damen" hat Scarpa selbst 1995 ein Sequel zu der Geschichte gezeichnet, die Story stammt von Claudia Salvatori. Darin geht Scarpa der lange andauernden, auf die Kindheit der beiden zurückreichenden, schwierigen Beziehung zwischen Micky und Karlo noch etwas näher auf den Grund. Casty schafft in "Gefangen in der Dimension der Schatten" einen Anklang an die Szene bei Scarpa, in der Micky und Atömchen Trudi verfolgen. Besonders schön ist allerdings eine Anspielung auf die fensterlose Hütte, aus der jemand verschwindet. Bei Casty handelt es sich um ein Zimmer, in das Leute gehen, die nicht mehr herauskommen. Lorenzo Pastrovicchio wiederum zitiert die Rückblende in der Micky-X-Episode "Das Karussell". Einen Insidergag gibt Claudia Salvatori – die von der Geschichte äußerst begeistert gewesen sein muss, nachdem sie schon das direkte Sequel geschrieben hat – in "Das Geheimnis der Sachertorte": Auf einem Filmplakat auf Seite 2 wird "Topolino e la collana Chirikawa" angekündigt. Micky sagt, dass dieser Fall der aufregendste seiner Laufbahn war – besser kann die Geschichte nicht geadelt werden. Die deutsche Übersetzung macht daraus "Micky Maus und das Chirikawa-Halsband". Auweh, sowas schmerzt! (Merkwürdig ist aber schon, dass in der Übersetzung die Kette Tante Lindas zu einer Irokesenkette wird – im Original stammt sie tatsächlich von den Chiricahua und das ist ein Apachenstamm, der unter anderem Cochise und Geronimo hervorgebracht hat.)
Fazit: "Die Irokesenkette" ist Scarpa at his best und eine der besten Maus-Geschichten, die je geschrieben wurden. Sie ist nicht nur weit oben im Inducks-Ranking, 2007 wurde sie auch in die LTB Fan-Edition gewählt. Von all den Maus-Geschichten nahmen nur diese Geschichte und der erste Teil der Asgardland-Reihe diesen Weg – eine Auszeichnung, die zeigt, welchen Stellenwert die Geschichte in der deutschsprachigen Fangemeinde besitzt.
Von McDuck (Dezember 2021)
Zuletzt aktualisiert: 01.05.2023, 12:58